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Bericht vom 25.06.2022

‘The Milk of Dreams’ nährt Frauenpower

59. Biennale d’Arte in Venedig macht Träume träumend wahr

© Jutta de Vries

 
 
Klimaneutral will sie werden, die 59. Biennale d’Arte im traumhaften Venedig. Nur ein einziges Oligarchen-Yacht-Monster liegt vor den Giardini,: Rußland-Boykott. Keine Welle schlägt haushoch, kein Kreuzfahrtriese durchschneidet mehr den Bacino. Aber die Vaporetti bersten an den Vorbesichtigungstagen auf den Hauptlinien zwischen den Ausstellungsorten, die meisten Leute aus dem Kunst-Business sind für 2,3, Tage eingeflogen. Viel Energie verbrauchen die Präsentationen. Klimaneutralität - Ein surrealer Traum?


Cecilia Alemani ist erst die 3. KuratorIN seit Beginn der Biennale im Jahr 1895 und die erste Italienerin! Jawohl, die renommierte Kunstfrau mit Philosophie-Studium und Lebensmittelpunkt in New York träumt einen schönen Traum und stellt die Balance zu vielen früheren Biennalen her, sie läßt endlich einmal das Frauenpotenzial der Kunstwelt ungebremst auf die beflissene Biennale-Gesellschaft los. ‚Ich möchte auf keinen Fall, daß von einer Biennale der Frauen gesprochen wird‘ weist Alemani Kritik zurück. Nur 20% der 213 Eingeladenen aus 58 Ländern sind tatsächlich Männer. Das Konzept der künstlerischen Darstellung einer Welt, die sich nicht mehr nur anthropozän sieht, sondern Konjunktionen von Mensch, Tier, Erde, Wasser oder neuen Technologien bildet, scheint im Kommen zu sein, und hierzu scheinen Künstlerinnen vermehrt zu arbeiten und damit mystische, surreale, magische oder absurde Sichtweisen stringenter umzusetzen. Hoch ist der Anteil indigener Positionen, thematisiert werden die Sami-Völker, Roma in Griechenland; farbige Frauen aller Nationen laufen zu Höchstform auf. Historien von Kolonisation und Sklaverei werden zur Basis von Freiheitsträumen.
 
Wie es mit der Welt in bedrohlichen Zeiten von Klimawandel und permanenten Kriegs- und Krisensituationen, Bedrohungen und Attacken auf die Demokratie - auch bedrückend nah in unserer westlichen Welt – in Zukunft werden mag, ist verzweifelnd nebulös und macht hilflos: daher rettet sich Alemani in phantastische Welten und entleiht ihren Ausstellungstitel dem Surrealismus, es ist der Titel eines zauberhaft-verrückten Kinderbuchs der englisch-mexikanischen Künstlerin Leonora Carrington, bekannt durch ihre Liaison mit Max Ernst und den Pariser Surrealisten. Das ist einfach eine geschickte Wahl, offen, überraschend, positiv besetzt und anregend. Darüber hinaus auch eine Beschreibung des Ist-Zustands: haben nicht viele Mächtige unserer Zeit die Köpfe an den unterschiedlichsten Stellen, nur nicht da, wo sie hingehören? Und wer rückt sie zurecht? 
 
  
Cover und S. 30 aus: Leonora Carrington,
The Milk of Dreams, The New York Review Children’s Collenction
Copyright 2013 by the estate of Leonora Carrington




Die Flut der 1.433 Werke allein in der Themenausstellung ermüdet dann aber doch, soviel Augen-Hirn-Sport war nie! Das liegt auch an den 5 ‚Zeitkapseln‘, die Cecilia Alemani mit Liebe und Respekt eingerichtet und im Giardini-Pavillon und in der Arsenale-Schau verteilt hat: der Erste, Bedeutsamste im Untergeschoß gleich hinter der Eingangsrotunde mit Katharina Fritschs ‚Elefant‘und dem großen Saal, der Rosemarie Trockel und Andra Ursuta prominent zeigt. 
Ganz in Gold vom Boden bis zur Decke werden die Künstlerinnen von Barock bis zur 20er-Jahre-Avantgarde verherrlicht, die Neue Frau, entfesselt, befreit, mit fliegenden Gedanken explodierend zwischen Mensch und Maschine, in der Metamorphose. Neben bekannten Namen wie Meret Oppenheim, Leonor Fini, Toyen oder Mary Wigman, Rebecca Horn, Hanna Höch oder Maria Sibylla Merian werden viele ebenfalls toughe Pionierinnen aus dem Vergessen befreit. 
So zieht sich durch die Gegenwartspräsentation in beiden Kuratorenpavillons eine deutliche Spur der Mütter und Großmütter hin zu der befreiten Künstlerin von heute, deren Werk immer auch die verrücktesten Beziehungen zum Thema erlaubt. Alemani hat hier super Forschungsarbeit für kommende Generationen geleistet, Chapeau!


Goldene 1. Zeitkapsel The Witch’s Cradle 


Männer gilt es aber auch hervorzuheben, wie z.B. den Argentinier Gabriel Chaile, der im Arsenal großformatige Öfen in pre-kolumbianischer Technik ausstellt. Er gibt ihnen Form und Physiognomie seiner Familienmitglieder, die auf mythische Weise so zum Nährboden des Überlebens werden; der Sami-Norweger Aage Gaup besticht mit abstrakter Natur-Skulptur; Frantz Zephirin aus Haiti thematisiert den Sklavenhandel; oder Ali Cherri, geboren in Beirut, jetzt Paris, zeigt als Multi-Künstler Installation, Skulptur und beeindruckende Video-Historie vom Bau des Merowe-Nil-Damms im Sudan.
Sehr verdient erhielt er den diesjährigen silbernen Löwen der Nachwuchs-Förderung. 


Aage Gaup, Sculpture I+II, 1979


Die weiteren Auszeichnungen gingen alle an Frauen: den Goldenen Löwen als beste Künstlerin erhielt Simone Leigh, USA. Speziell erwähnt wurden Lynn Hershman-Leeson, USA (die 81-jährige beschäftigt sich mit horriblen Cyborg-Geschichten) und die Sami Shuvinai Ashoona aus Kingait.


Simone Leigh, Brick House, 2019 - USA-Pavillon


Freuen dürfen wir uns mit Katharina Fritsch aus Düsseldorf über den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk. Die Chilenin Cecilia Vicuña, die auf der letzten documenta in Athen begeistete, erhielt ebenfalls den Goldenen Lebenswerk-Löwen. Im Gardini-Pavillon zeigt sie anrührende Gemälde und eine große zarte mystisch erfahrbare Unterwasser-Installation. 


Auch national gab es Gold: Im Pavillon Großbritannien untersucht Professorin und Künstlerin Sonia Boyce künstlerische Arbeitsweisen schwarzer Frauen und präsentiert in der vielräumigen, Disco-bunten, prismatisch all-over - gebrochenen Location fünf Musikerinnen gleichzeitig in action, ein unglaubliches Potpourri der Klänge, Farben und Formen. Und sie hat damit ‚die soziale und kollaborative Seite‘ ihres Kunstmachens voll ausgelebt. Gratulation! 


Britischer Pavillon, Sonia Boyce


Der französische Pavillon ‚Les rèves n’ont pas de titre‘ fand eine besondere Erwähnung der Jury: Zineb Sedira realisiert einen alten Film zur Unabhängigkeit Algeriens in Hinblick auf das Wahrwerden des einstigen Traums. 
Ebenfalls besonders erwähnt wurde Newcomer Uganda, ‚Radiance - They dream in time‘. Die lange, lange Suche nach dem versteckten Palazzo im Gewirr der Brücken und Plätze lohnt sich sehr. Der ‚Glanz‘ des Titels fließt über die zuversichtlich klaren Porträts von Collin Sekajugo, die mit den kunsthandwerklich perfekten Struktur-Collagen von Acaye Kerunen korrespondieren. 
Das strahlende Leben in Uganda  -  vielleicht doch kein WunschTraum?


Uganda Pavillon


Unter den insgesamt 80 Länderpavillons überraschen nur wenige, ja, der deutsche ist auch dabei. Maria Eichhorn, die strenge Analystin, reduziert wenigstens ansatzweise, gedanklich  und prozessual, den Größenwahn des Nazi-Pavillons auf sein originales, harmonisches Maß von 1909, erbaut vom Königreich Bayern. Ihr Traum: wegdenken, oder ganz auf einer Sumpfinsel in der Lagune entsorgen, das ganze protzige Haus… 


Deutscher Pavillon, Maria Eichhorn


Österreich lebt wie immer die verrücktesten Träume aus, USA mutiert zum Kral, belebt von Simone Leighs gigantischen Frauenfiguren aus Bronze und Keramik; Aserbaidjan verzaubert und entfremdet mit einer groß angelegten Spiegel-Licht-Installation in den frisch renovierten Procuratie Vecchie. Chile träumt den Öko-Traum und fokussiert die Feuerland-Moore als größtes Ökosystem der Welt, eindringlich, erkenntnisreich und lange noch Erdduft-intensiv. Die Niederlande träumen diesmal in der Chiesa della Misericordia vom neuen hautnahen Touch-Feeling aller Menschen zueinander; gleich daneben, in der großartigen Scuola della Misericordia ehrt die Ukraine ihre ersten Helden, großformatige Gemälde von Soldaten, Vaterlandsverteidigern, ungeschützt, in Alltagskleidung. Im Arsenale stellt Pavlo Makov dazu seine ‚Fountain of Exhaustion‘ von 1995 aus, die in einer Rettungsaktion aus Charkiv nach Venedig kam. Und ein Gedenkplatz für die Ukraine in den Giardini mit Sandsackpyramide und Kinderzeichnungen zum Krieg zeigt eindringlich, wie die harte Wirklichkeit uns naiv Träumende bitter einholen kann.


Niederlande Pavillon               


Ukraine-Gedenkplatz


Schließlich bedeckt Latifa Echakhch für die Schweiz die Milch der Träume mit Asche, die im Pavillon überall unter den Füßen knirscht, Ergebnis ritueller Verbrennungen? Halb angekokelte Strohskulpturen im Hof weisen den Weg in die absolute Dunkelheit des Raums, in dem rhythmisch getaktet Licht aufflammt. Geht das, ein Konzert für ein Purgatorium in Zeit und Raum? 


Schweizer Pavillon, Latifa Echakhch


Und da ist ja auch noch Großartiges zu sehen, von dem man in der räumlichen Nähe einer einzelnen Stadt sonst wirklich nur träumen kann: allen voraus die Anselm Kiefer Raum-Installation im Gerichtssaal des Palazzo Ducale, Joseph Beuys im Palazzo Cini, Anish Kapoor in der Accademia, Marlene Dumas im Palazzo Grassi, Bruce Nauman in der Punta della Dogana, Lucio Fontana und Anthony Gormley im Negozio Olivetti, Katharina Grosse bei Louis Vuitton, Markus Lüperz im Archivo di lettere e scienze, Daniel Richter im Ateneo und eine Heinz Mack-Schau in der Biblioteca Marciana. Ja, davon träumen alle Kunst-Reisenden! Und noch viel mehr Kunst gibt es im Lagunen-Bereich zu erleben.


Auf nach Venedig dieses Jahr, liebe Kolleg*innen, machen Sie Ihre Träume wahr, allen Kriegen, Pandemien und Umweltattacken zum Trotz!


Laßt uns die Milch der Träume trinken, und dann gestärkt wach, sehr wach und handlungsfähig werden – das wäre mein Positiv-Traum am Ende des 59. Biennale-Parcours.


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