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Bericht vom 29.08.2021

LEBENSZEIT - Wie wir wurden, was wir sind

Birgit Lindemann – Kai Feddersen

© Jutta de Vries

Birgit Lindemann – Kai Feddersen


LEBENSZEIT
Wie wir wurden, was wir sind


Doppelausstellung im Kunstverein Torhaus Elmshorn vom 02.09.08. – 19.09.2021
Einführung zur Eröffnung am 29.August
©Jutta de Vries


Guten Morgen, meine sehr geehrten Herren und Damen,


viel Publikum hier heute, nicht? Viele stehen oder sitzen um uns herum, auch ganz eng, und ganz ohne Masken (in diesen Zeiten!) Und dann noch diese frechen Kinder…


Wenn wir uns so umschauen, sind wir begleitet von einer bunten Gesellschaft in Terrakotta und Öl, sie treten plastisch in den Raum oder scheinen aus ihren Rahmen zu steigen: im Wesentlichen ist dies ein Ausschnitt einer mittelständischen, vielleicht gehobenen Gesellschaft, wie sie uns vertraut ist.
Sie sind jugendlich, mitten im Leben oder reiferen Alters, zugewandt oder mit sich selbst in Stille beschäftigt, - nur die Kinder um uns herum wollen uns wohl gern aus dem Konzept bringen mit Ihren Aktivitäten und Nöten.!
Anders die Herrschaften an den Wänden. Fast alle schauen uns offen an, suchen, so scheint es, die Kommunikation, mit uns Betrachtenden. 
Also nur zu, ich lade Sie ein, die Gesellschaft zu befragen! 


Familie, Kolleg*innen, Freund*innen, Schüler*innen sind es, die Kai Feddersen zur Darstellung angeregt haben. Sie erscheinen vor neutralem Hintergrund – mit Ausnahme der beiden „Goldmädels“. Die Formate sind unterschiedlich, von der Ganzfigur bis zum Kopfstück ist alles dabei, Paarkonstellationen gibt es auch: beispielsweise Jolina und Jandra in typisch jugendlich lockerer Körpersprache, oder das Dyptichon der „Freundinnen“, deren sehr unterschiedliche Charaktere den Künstler faszinierten. Attribute sind selten, mal ein leuchtender Schal, ein Amulett, ein kleines gemeines Pflaster, das natürlich sofort den Blick auf sich zieht…
Um dem Menschen die volle Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, sind die Hintergründe fast immer zurückgenommen, in einer Farbfamilie tonig abgeglichen. Oft entsteht dabei so etwas wie eine Aura, die die Figur umgibt und hervorhebt. Das fällt besonders bei Liev auf, die zuversichtlich mit einer Autoimmunkrankheit lebt. Sie begrüßt uns im Eingangsbereich, ihre lichte Gestalt erhält durch den Hintergrund geradezu etwas Überirdisches. Anders bei der Fremden am Abend im UBahn-Szenario mit ihrem Handy, das unbeantwortet bleibt, und so bleibt sie allein mit ihrem Spiegelbild im Fenster, als Spiegel einer heute weit verbreiteten Isolation. 
Wir treffen noch die Skeptischen, die Traurigen, die Edlen, die Selbstbewussten und Selbstverliebten, die Toughen und die, die einfach nur „so sind“. Über alle gibt es besondere Geschichten und liebevolle Anmerkungen des Künstlers, man spürt die empathische Zuwendung zu seinen Modellen.


Auch die Plastiken von Birgit Lindemann verkörpern einen Teil unserer Gesellschaft, sie sind ebenfalls Bilder vom Menschen. In ihrer raumbezogenen Dreidimensionalität sind sie bedingungslos präsent, gewissermaßen unter uns, gleichermaßen als Kleinformate und in Lebensgröße. Wie reagieren wir auf das verzweifelte Kind, dem vielleicht nicht nur der Teddy kaputt gegangen ist, welchen Zugang finden wir zu den beiden frechen  Girlies, wie stehen wir zu den selbstsicher blickenden beiden Trisomie-Jungs, wie streng blickt das Damenbildnis an uns vorbei, wie begegnen wir dem jungen Mann mit dem Hoodie oder den Frauen, die sich auf die Flut vorbereiten? Standpunkte des gesellschaftlichen Miteinander und der Verantwortung werden hier thematisiert


Das Material Ton ist uns allen ja aus früher Kindheit bekannt. Eine essentielle haptische Erfahrung, wie es scheint. So beschreibt es der kretische Dichter Nikos Kazantzakis, der selbst eine Zeit lang im Töpferdorf gelebt hat: „Weißt du, was es bedeutet, ein Stück Erde in der Hand zu halten? Es bedeutet frei zu sein, Mensch zu sein.“
Mehr noch: ERDE: sie ist das Urmaterial aller bildnerischen Schöpfungskraft!
Die farbigen, trockenen Lagen hatten schon die Steinzeitleute im Paläolithikum zu Pulver zerrieben und mit dem Finger als Spurgeber Linien oder Flächen an Höhlenwänden ausprobiert und figural zur Meisterschaft gebracht. Damit konnten sie für sich die Entdeckung der Welt, der Gottheiten und des eigenen Ichs dokumentieren. 


Mit diesem gleichzeitig erdgebundenen und mythischen Material in der heutigen Zeit virtuos umzugehen und es gestalterisch zu meistern, das ist Birgit Lindemanns Kunst. Die diffizile Technik des Aufbaus und Brennens der großen Formate erfordert neben dem künstlerischen Esprit viel technisches und kräftezehrendes Knowhow.
Die fein modellierten Gesichter, die liebevoll gestylte Kleidung gestalten die fließenden Formen, die ergänzend 
unterstützt werden durch den zurückhaltenden Farbauftrag aus reinen Pigmenten, gebunden mit Knochenleim und Alaun. So bricht sich das Licht in der plastischen Gestaltung und wirft klar konturierende Schatten. Das wäre beispielsweise mit spiegelnden Glasuren nicht möglich, sie würden die Lebendigkeit von Haut und Texturen erstarren lassen. So erscheinen Birgits Figuren sowohl lebendig vertraut und gleichzeitig ein wenig entrückt in eine stille innere Welt des Schönen.


Kai Feddersen verwendet im allgemeinen ebenfalls gebrochene Farbklänge, virtuos geht er mit den Eigenschaften der Farbe und ihren Kontrasten um, spielt mit den Techniken quer durch die Kunstgeschichte vom mimetischen Abbild der sprechenden Augen etwas über impressionistische Haarpartien und expressive Gesichtszüge, bis zur popartigen Tontrennung und vor allem fein lasierender Altmeisterlichkeit! In seinem liebevollen Menschenbild beleuchtet eine Plastizität aus Licht und Schatten die Gesichter, Figuren und Materialbeschaffenheiten und machen sie haptisch und perspektivisch erfahrbar.  So entsteht in der Gegenüberstellung der beiden Werkgruppen ein vor allem farbharmonisches Zusammenspiel.


Kein Wunder, denn beide Künstler verbindet nicht nur die Atelier- sondern auch die Lebens-Ehe-Gemeinschaft.
Beide kennen sich vom Studium an der Kieler Muthesius Kunsthochschule, beide studierten unter anderem bei Jan Koblasa, Birgit freie Kunst/Bildhauerei, Kai freie Kunst und Kunsterziehung. Beide sind geprägt vom verpflichtenden Naturstudium, in dem ihre vorhandenen Begabungen der mimetischen, also gegenstandsgetreuen Abbildungsfähigkeit auf den Punkt gebracht wurden. Gern habe sie das gemacht, erinnert sich Birgit, das Handwerk lernen im Sinne des Hochschul-Namensgebers und Werkbund-Gründers Hermann Muthesius, Lust haben auf das Gekonnte. Kunst kommt ja tatsächlich von Können, die Wurzel ist das mittelhochdeutsche Wort „konst“, das alle handwerklichen Techniken, Maßgaben und Verzierungen im Sinne von Bedeutung umfasst, wie der Duden uns erklärt.
Zu der Zeit ihres Studiums übrigens waren die gegenständlichen Kunststile gerade völlig out, allenfalls schaute man mit einigem Interesse auf die Neue Leipziger Schule oder Gerhard Richters Fingerübungen zum Abbildhaften. (Heute hat sich das Blatt gewendet, Realität in all ihren Formen ist angesagt, diese Ausstellung ist also total in).


So machte Birgit zwischenzeitlich einen langen Abstecher in die digitale Abstraktion mit der Erforschung des Lichts in fraktalen Spiegelskulpturen, bevor sie zu den keramischen Ursprüngen zurückkehrte und sich seither der Betrachtung des Menschlichen zuwendet. Die Lust an der Kunst des mimetischen Abbildens ist ihr geblieben, wie auch Kai sich davon nicht getrennt hat. 


Nun betreten wir mit dem Terminus des Bildes und seines Abbildes ziemlich schwankenden philosophischen Boden, schwankend seit der Antike und bis heute ein beliebtes Streitthema. Der erkenntnistheoretische Ansatz von Nelson Goodman (2.Hälfte 20.Jh), also ein relativ aktueller Ansatz, geht von einer Art Konstruktivismus aus. Sehen wir ein Objekt oder eine Figur, ein Gesicht, ist es durch unseren individuellen kognitiven Filter zugleich konstruiert und als Abbild interpretiert. Er postuliert „Bilder sind keine reinen Abbilder der Wirklichkeit, sondern Modelle, die eine immer deutende Sichtweise von Realität enthalten“. Spiegelungen enthalten noch dazu den Umkehrschluss und weitere Störfaktoren, etwa durch Lichteinfluss oder durch den Künstler, die Künstlerin, die dieses Modell wiederum abbildet, mit all seinen Gedanken und Symbolen, die sie dem Gegenstand beimessen wollen. Und dann kommen wir Betrachtende und sehen das Kunstwerk, das Objekt, und unser kognitiver Filter tritt in Aktion, und so geht der Kreislauf von vorn los. Das ist auch übrigens einer der Gründe dafür, weshalb jeder Betrachtende die Botschaft eines Bildes ganz individuell aufnimmt.


Wie Birgit in der Einladung zu dieser Ausstellung schreibt, untersucht sie die anthropologisch-wissenschaftlichen Ordnungen, die den Menschen sowohl als Individuum als auch als reproduzierbares Wesen diagnostizieren. Darüber hinaus sind ihr psychologische und religiöse Aspekte wichtig, alles eben, was Leib und Seele möglicherweise zusammenhält. Fällt da unser Blick nicht gleich auf Kais „Magier“ mit seinen elektrisierenden Händen?


Viele Bezüge und Verbindungen entdecken wir zwischen dem Werk der Einen und dem des Anderen.


Was ist der Mensch, wie und durch was oder wen entwickelt er sich im Laufe seiner Lebenszeit, wie verhält er sich in seiner Umwelt, – das ist das große Thema und die große Fragestellung beider Künstler.
Wie werden wir Menschen, was wir sind? Wie geht der Mensch mit sich und seiner Befindlichkeit, den Beziehungen privater und beruflicher Art um, wie richtet er sich in der Welt, in der er lebt, ein, wie schützt er die Schöpfung? Birgit und Kai stellen sich und uns in ihren bildnerischen Untersuchungen zum Menschen diese drängenden Fragen. 
Philosophen von der Antike an haben bis heute keine plausiblen Antworten gefunden, alles bleibt im Fluss, Pantha Rhei, wie Platon mit Bezug auf Heraklits Flusslehre ausruft.


Ein bleibendes Moment in der Kunst ist aber immer die Schönheit. Der hat sich Kai besonders verschrieben. Schönheit und Würde des Menschen sieht er als wichtiges Attribut seiner Werke. „Der menschliche Körper“, sagt er, „ist der Spiegel seines Selbst als Ausdruck all seines gesammelten Lebens“.


Nun ist der Begriff der Schönheit vieldeutig; Immanuel Kant weist der Schönheit ein eigenes Reich zu in seiner „Kritik der reinen Urteilskraft“ (1790). Er definiert das Schöne als das, was ohne Interesse gefällt. Das könnte man als den Eigenwert der Kreativität bezeichnen. 
Friedrich Schiller baut in seiner Abhandlung „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“(1795) auf Kant auf, wenn er im ästhetischen, also kunstvollen, guten und edlen Verhalten des Menschen zur Welt das Versöhnliche sieht; nur durch Schönheit, so Schiller,  gelange der Mensch zur Freiheit. Dazu müsse er aber erst erzogen werden! – 
Da unserer Gesellschaft das in den vergangenen 200 Jahren leider nicht gelungen ist, müssen wir von einer Idealvorstellung ausgehen. Es ist aber dennoch unverzichtbar und geradezu lebensnotwendig, in der Kunst das Schöne, den göttlichen Funken in jedem Menschen, zu feiern.


Und dazu lade ich Sie nun ganz herzlich ein und gebe das letzte Wort an Schiller:
Die Schönheit ist das Werk der freien Betrachtung und wir treten mit ihr in die Welt der Ideen.


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