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Bericht vom 16.06.2019

Kunst Im Zeitalter Einer Verlorenen Wahrheit

58. Biennale Arte die Venezia 2019

© Jutta de Vries

58. Biennale Arte die Venezia 2019
Kunst Im Zeitalter Einer Verlorenen Wahrheit
Jutta de Vries




May You Live In Interesting Times! wünscht der diesmalige Kurator Ralph Rugoff
den mehr als 600.000 erwarteten Besucher*Innen der immer noch größten Kunstschau der Welt. Schon in den ersten 4 Tagen haben mehr als 20.000 Kunstbegeisterte, Mäzene, Galeristen, Käufer und der internationale Jet-Set das Arsenale, die Giardini und die vielen im Stadtgebiet verstreuten Locations überflutet. Das sind ungefähr so viele, wie die erste Kunstbiennale 1895 in ihrer gesamten Laufzeit von vier Monaten hatte. Wann wohl die Millionen-Marke erreicht wird? 


Nicht nur die Besucherzahlen, auch die Zahl der teilnehmenden Staaten steigt ständig.
2011 nahmen über 80 Nationen teil, deren Darbietungen von 440.000 Besuchern gewürdigt wurden. 2019 nehmen 90 Nationen teil, neu sind dieses Jahr Ghana, Madagaskar, Pakistan und Malaysia.


An der Kuratorenschau sind 79 Künster *Innen doppelt beteiligt, also mindestens gibt es dort 180 Werke zu sehen; neben den eigenständigen Länderpavillons und dem gesamten Arsenale-Bereich sind mehr als 1.000 Nebenschauplätze und 21 Collateral Events dabei. Alle wollen ein Stück vom großen Kuchen, und extra Sahnestückchen bieten die großartigen Museen mit der Präsentation großer Namen: Leonardos Zeichnungen in der Accademia, Canaletto im Palazzo Ducale, Hans Arp bei Peggy Guggenheim, Helen Frankenthaler im restaurierten Palazzo Grimani. Dazu Baselitz, Luc Tymans, Alberto Burri, oder Günter Förg.
 
Man wird sich also auch diesmal viele Stunden und Tage an dieser großen Weltkunstschau abarbeiten können, die mit ihren Besuchern aus aller Welt und in den alten und neuen Raumsituationen ein ganz eigenes Fluidum verbreitet. Wollte man sich in jedem Pavillon nur 10 Minuten Zeit nehmen, würde der Besuch schon 15 Std und 10 Min. dauern, dazu kommen noch die teils sehr weiten Laufwege.
Das komplette Eintauchen in ein kunstgesättigtes Umfeld kann aber gern nur zum Flanieren verleiten –vieles in diesem gigantischen XXL- Event ist eben auch nur Stadtmöblierung oder unterhaltsame Dekoration.


Überall in der Stadt ist das diesjährige Motto unübersehbar: 
May You Live In Interesting Times! 




Der sympathische, zugewandte US-Amerikanische Kurator Ralph Rugoff, derzeitig Direktor der renommierten Londoner Hayward Gallery, hat es vorgegeben. Über die Bedeutung der Sentenz wird gerätselt; erhellend wirkt vielleicht der rosarote leere, nicht betretbare Kubus-Pavillon der Chinesen im Arsenale, A Place Without Whether Or Whither, ein Platz ohne wohin und woher, ganz der Gegenwart gewidmet.


Aus China soll ja angeblich auch das Motto kommen, dort früher als Fluch gebraucht worden sein. Tatsächlich Fake News: J.F. Kennedy hat den good-will-Spruch bei einem Staatsbesuch in Südafrika geprägt. Rugoff hat ihn gewählt, um angesichts der Möglichkeiten unseres digitalen Zeitalters die Ambiguität zwischen Trug und Wahrheit zur Diskussion zu stellen. Er betont die Autonomie der Kunst, die nicht „alternative Fakten“, jene hämische Umschreibung für böswillige Lüge, sondern „alternative Perspektiven“ produziere. Diese Meinung will er mit seinem Ausstellungskonzept beweisen. Und zwar hat er 79 Künstler*Innen eingeladen, die alle leben, darunter ist politisch korrekt ein paritätischer Anteil Frauen und es gibt viele Außereuropäer. Er zeigt sie sowohl im Arsenale als auch, mit gewünscht unterschiedlichen Positionen, im zentralen Giardini-Pavillon. 


In den heutigen unübersichtlichen Zeiten mit Klimawandel, Brexit, globalen Unsicherheiten und Kriegs- und Flüchtlings-Traumata soll die Kunst nun – nein, keine Antworten, aber so etwas wie „Vorschläge“ liefern. Proposition A für das Arsenale, Proposition B für die Giardini, so bezeichnet Rugoff seine Schau, die, wenn sein Traum aufgeht, die Vielfalt im einzelnen Künstler und damit in der Welt aufzeigt. Hierfür wählt er den Begriff der „Kunst im Zeitalter einer verlorenen Wahrheit“, „art in a post-truth-era“.


Mut zum Gegenhalten, aber auch Trauer läßt sich aus diesem Begriff herauslesen.


Deshalb wohl liegt Rugoffs Fokus auf dem Wunsch, das Publikums möge eigene Erfahrungen mit dem Kunstwerk machen, nicht “irgendeiner kuratorischen Rhetorik“ folgen. Deshalb hat seine Schau auch kein einengendes Titelthema. Er wünscht sich – und das betont er immer wieder – den  mündigen Betrachter, der ein Gespräch mit dem Kunstwerk führt, um sich dann die Welt besser erklären zu können, sich mit ihr auseinanderzusetzen – und – O Santa Simplicità – selbst besser in ihr zu handeln, weil man das Interessante der Zeiten, in denen man lebt, hautnah spürt. 


Die Botschaft hör‘ ich wohl…


Die Erkenntnis, daß die Welt, auch die Welt der Kunst, so verschiedenartig ist wie ihre jeweiligen Betrachter*Innen, ist ein Ansatz, der gerade für uns Kunstpädagogen längst kein Zauberwort mehr ist. Die Idee des offenen Kunstwerks wird im 20. Jh. besonders befördert, interaktive Partizipation  bei der Betrachtung eines Kunstwerks ist immer auch ein kreativer Akt, der das Werk erst vollendet (Marcel Duchamp, John Cage).


In dieser Hinsicht stehen Rugoffs. Türen weit offen. Im Blick hat er wohl die steigende Anzahl von eher kunstfernen Venedig-Touristen, die in immer größerer Zahl auch die Biennale besuchen. Daher ist der Ansatz besonders niederschwellig. Er möchte sich wirklich vermitteln und setzt auf eingängige Metaphern gleich zu Beginn seiner beiden Kuratoren-Standorte:


Mit dem Giardini-Entree nach dem Motto „durch strahlendes Licht in dunkle Nacht“ hat Rugoff einen symbolischen Kontrast erzielt, und im Arsenale-Entree empfängt er die Besucher vor Kopf der nackten Holz-Stellwände mit George Condos „Double Elvis“ - Doppelporträt eines Säufers. Kontrastierend zu Andy Warhols Serials soll das Gedankengebäude der Vielseitigkeit auch hier dem Biennale-Besucher sofort und unmißverständlich deutlich werden. 


Während Lara Favaretto in den Giardini im wahrsten Sinn des Wortes den Kopf, nämlich die zentrale Ausstellungshalle, im Nebeldampf des Denkens rauchen läßt und in einer simplen Kopfzeichnung gleich im Eingangsbereich soziale Denkregionen verortet, schichtet sie undefinierbare Objekte in einen Lagerraum als Beispiele für intellektuelle Denkmodelle (Philosophie, Arithmetik, Medizin, Musik – um nur einige der septes artes generales zu nennen, die in der Renaissance, auf dem Altertum fußend, das studium generale bedeuteten. Im Arsenale zeigt sie Abdrücke des eigenen Körpers, erstarrt in Beton.


Während hier die Starre (des Denkens?) erahnt wird, läuft Natascha Süder Happelmann alias Natascha Sadr Haghighian im Deutschen Pavillon und auch sonst in der Öffentlichkeit der Biennale-Zeit mit veritablem Betonkopf herum, klar ist, wen sie damit meint. Ihre Statements verliest ihre Sprecherin Helene Duldung, beide Namen gehören zur Kunst genau wie 3 Videos im Netz, ohne die die große interdisziplinäre Installation „Ankersentrum“ im „ruinösen“ Deutschen Pavillon kaum verständlich wäre. Ob sie bei „Betonköpfen“ etwas bewirken wird, sei dahin gestellt. Faszinierend sind die sich überlagernden Trillerpfeifen-Kompositionen von sechs Musiker*Innen im Gerüstwald der Klangboxen. Es lohnt sehr, sich dort eine Weile aufzuhalten und über „Ankersentren“ nachzudenken.


Besonders beeindruckend ist die Video-Szenerie von Arthur Jafa, der den diesjährigen Goldenen Löwen für den besten Teilnehmer in Empfang nehmen konnte. Sein Film „The White Album“ reflektiert sehr poetisch den Ursprung von Rassenhierarchien.


Und wenn man den weiten Weg ins Quartier S. Francesco geschafft hat, kann man immer Mittwochs und Samstags die Opera-Performance im Litauischen Pavillon, einer alten Lagerhalle am Außenrand des Arsenale verfolgen. Sea&Sun(Marina) ist die absolute Top-Location. Die vermeintlich heitere Strandsituation unter Licht- und Wärmestrahlern mit Statisten aller Art, die ein scheinbar wohliges Freizeitvergnügen genießen und uns dabei von der Galerie aus zuschauen lassen, läßt jedoch das Blut in den Adern gefrieren, wenn die Sänger loslegen: Die Texte führen in eine Horrorzukunft, die gar nicht mehr so weit weg scheint und man vermeint, von irgendeinem anderen Stern herab, eine zukünftige, hermetische Ersatz-Welt zu beobachten. Der Goldene Löwe für das junge Team aus Litauen ist ganz ohne Frage mehr als verdient.




Die großen Themen der Zeit werden von fast allen Ländern abgehandelt, Migration, Ausgrenzung, Gewaltherrschaft, Kriegsfolgen, Klimawandel, Vermüllung und Verschwendung von Ressourcen, Genderprobleme und Emanzipation – überall kann tief gegründelt werden, und es erscheint ein Zustand von Welt, tatsächlich „post-truth“.


Ob Flüchtlingstotenschiff, von Christoph Büchel aus dem Mittelmeer herbeigeschafft,  ob regenbogenfarbige Kuschelhöhle aus Island, fein gedrahtete glitzernde Wandbehänge aus ghanesischen Flaschenverschlüssen, Blutwischmaschine und peitschende Thronsessel des chinesischen Duos Sun Yuan und Peng Yu, die bedrückende, minimal-invasive Leere bei Cathy Wilkes im Britischen Pavillon oder  Zanele Muholis wandfüllende sw-Fotoporträts von lesbischen afrikanischen Frauen: Vielfalt und Esprit machen den Biennale-Parcours zu „interesting times“ der Kunst-Neugier.


Bis 24. November ist täglich außer Montags geöffnet, und mit Schülern scheint die pädagogische Kuratorenschau besonders lohnend, schon allein wegen des Redundanz-Effekts…


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