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Bericht vom 10.06.2013

WWV – World Wide Venice Art Biennale 2013

Vom globalen Anspruch eines Wissens-Speichers von Kunst... ...und seiner präzeptiven Unmöglichkeit

© Jutta de Vries

WWV – World Wide Venice Art Biennale 2013 
Vom globalen Anspruch eines Wissens-Speichers von Kunst...
...und seiner präzeptiven Unmöglichkeit
©Jutta de Vries


Biennale die Venezia? Biennale, na klar, ein  Muß wie die Documenta, beide die absoluten Spitzenereignisse im  Gebirge der internationalen  Kunst-Ausstellungen und Messen. Hier will man sich über die aktuellsten aller aktuellen Kunstrichtungen informieren. 
Venedig machte 1895 den Anfang, die globale Kunstidee nach dem Muster der Pariser und Londoner Weltausstellungen sollte den matt gewordenen Glanz der einstigen Serenissima und ihre marode Wirtschaft aufpolieren. Das Konzept ging auf: der zauberhafte Ort in den napoleonischen Giardini reizte, die Idee autonomer nationaler Ausstellungsbauten gefiel, der Wettbewerbsgedanke auch, immerhin sorgten 224.000 Besucher für einen großen Publikumserfolg, der sich alle zwei Jahre wieder steigert. Im diesjährigen 55. Biennale-Jahr rechnet man mit  mehr als einer halben Million  Kunst-Touristen, und die Kasse klingelt anhaltend. Kein Wunder, dass immer mehr Staaten Einlaß begehren: in diesem Jahr sind insgesamt 88 Nationen dabei, alle wollen mitmachen – neu dabei auch der Vatikan sowie Syrien – die Schau lebt vom Kontrast. 


Wohin mit all der Kunst, die sich teils riesig auftürmt? Die Giardini sind mit den Länderpavillons besetzt,  aber die in den letzten Jahren kontinuierlich sanierten weitläufigen Arsenale-Hallen bieten jetzt auch auf der Nordseite so viel Kunstraum, dass man dafür gern einen halben Tag extra einplanen sollte. Schon den Weg  dorthin zu finden, bevor mittags mal ein Shuttleboot fährt, ist eine Kunst. 


Außerdem, und das ist für viele Venedig-Fans beinahe das Spannendste an dieser Biennale, öffnen so viele ehrwürdige Palazzi im gesamten Stadtraum und auf den Inseln ihre Portale für die Kunst wie nie zuvor, so dass man auch Einblick in die vergangene Pracht venezianischen Lebensgefühls erhaschen darf. Attraktive Adressen sind der Palazzo Cini, der  inmitten der mittelalterlichen Sammlung den Länderpavillon Angola beherbergt. Zum ersten Mal überhaupt dabei, erhält die 23-teilige Fotoarbeit „Luanda. An Encyclopedic City“ des erst 36jährigen Fotojournalisten Edson Chagas gleich den Goldenen Löwen für den besten Pavillon . Und weiter das  weitläufige Klosterareal von Maria della Pietà an der Riva degli Schiavoni: noch nie konnte man auf den Spuren von Vivaldis Waisenmädchen wandeln. Hier residieren Neuseeland, China und Zimbabwe, eine Entdeckung! Thomas Zipp bespielt den Palazzo Rossini am Campo Manin, etwas abseits, aber hingehen! Spannend auch der sonst so hermetische Palazzo Zenobio der Armenischen Gemeinschaft, der Maxim Kantor ausstellt und im weitläufigen Garten den Beitrag von Island.  In der Fondazione Prada im Palazzo Corner della Regina mit seinen großartigen Fresken ist der getreue Nachbau der Harald-Szeeman-Ausstellung „When attitudes become form“, Bern 1969, zu sehen, im Palazzo Fortuny  gibt es Tapiès, im Bembo Lawrence Weiner. Im retrospektiven Reigen tanzen durch Paläste und Museen  Motherwell,  Lichtenstein, Leonardo, Munch und – großartig – Manet. Am eindrucksvollsten vielleicht Emilio Vedovas Arbeiten zu Tintoretto, die in der Scuola di San Rocco eine großartigen Symbiose eingehen mit der dortigen umfassenden, berühmten Tintoretto-Wand-und-Decken-Ausstattung.
Schätzungsweise bräuchte man eine Woche, um alles abzuklappern, was das Herz von Venedig an Sonderschauen bereit hält. Es ist, als blicke man freudig in  ein bunt geschütteltes Kaleidoskop und kann sich tatsächlich nicht sattsehen an den immer neu sich formenden Facetten. 


Die Vielfalt des enzyklopädischen Palastes, hier geht sie im Motto der Biennale auf: jenes Motto „Il Palazzo Encyclopedico“, das der erst 39jährige Chefkurator und künstlerische Leiter Massimiliano Bioni mit Bezug auf Marino Auriti gewählt hat.
Der italo-amerikanische Autodidakt hatte 1955  ein Patent über einen enzyklopädischen Palast angemeldet, der als Museum alle Kenntnisse und Entdeckungen der Welt beinhalten sollte. Dafür sollte ein 136 Stockwerke und 700 m hoher Wolkenkratzer in Washington DC gebaut werden, auf einer Fläche von 16 Blocks. Eine exzentrische Idee!
Bioni weiß um die Unmöglichkeit des Erfolgs: “Auritis Plan wurde natürlich nie ausgeführt, aber der Traum einer universellen, alles umfassenden Wissensdarstellung zieht sich durch die Geschichte, weil viele Künstler, Wissenschaftler und Propheten – oft vergeblich – versucht haben, ein Bild von der unendlich reichen Vielfalt der Welt zu zeichnen...Inspiriert von Hans Beltings „Anthropologie der Bilder“ will die KunstBiennale 2013 die Bereiche des Imaginären und die Funktionen der Imagination untersuchen.“ Und Gioni wiederholt es bei jedem Interview: es interessieren ihn die Dinge, die seine Vorstellungen infrage stellen, die Kunsträtsel, die er noch nicht gelöst habe, vielleicht nie lösen werde.


Diese Absicht setzt Bioni im zentralen Pavillon in die Tat um. Unter der frisch restaurierten Kuppel inszeniert er prophetenhaft das Traumbuch von CG Jung, im großen Saal doziert flächendeckend  Rudolf Steiner, wenigstens konterkariert von Tino Seghals großartiger permanenter Performance eines Pärchens im sich spiegelnden Dialog: Zu Stille und Bewegung kommt die ganze Palette vom Summen bis zum Schrei – dafür gabs zu Recht den Goldenen Löwen.  Auch Maria Lassnig und Marisa Merz finden wir hier, die beiden Grandes Dames der Avantgarde erhalten Löwen für ihr Lebenswerk.


So viel Vergangenes, beinahe Vergessenes, abseitig Psychotisches oder Esoterisches wie Emma Kunz oder Hilma af Klint,  Morton Bartlett, die Shaker Group und Eugène von Bruechenheim, dazu Etabliertes wie Beuys, Dorothea Tanning oder Richard Serra: das enzyklopädische Wollen verlangt hier die Wunderkammer-Vielfalt, so dass  der Titel von Fischli/Weiss’ Environment aus unzähligen  Tonplastiken auf der Empore „Plötzlich diese Übersicht“ geradezu ein Witz ist. Im Arsenale setzt Gioni auf den White Cube und nimmt damit leider der Seilerei den grandiosen Raumeindruck . Durchblicke gibt es  meist seitlich an unzähligen Zeichnungs- oder Fotoserien entlang bis zu einem Augenpunkt, etwa Roberto Cuoghis archaisch geschichtete Riesenskulptur  oder Paul Mc Cartneys medizinische aufgeschlitzte Stoffpuppe. Duane Hanson ist dabei oder Charles Ray; Cindy Sherman und Rosemarie Trockel kuratieren eigene Cubes, Voodoo-Zauber  gruselt oder PopArt vom frühen Albert Oehlen. Otto Piene , Dieter Roth und  Bruce Nauman irrlichtern, – alles déja-vu.  Ein Glanzlicht setzt Walter de Maria mit einem seiner vertikalen Erdkilometer, der hier in horizontalen Segmenten goldfarben in der grauen Maschinenhalle leuchtet. Von den Länderpavillons im Arsenale ist Kosovo mit einem begehbaren Wurzelwerk aus der Heimat erwähnenswert, im Libanon wir die imaginäre Geschichte vom israelischen Piloten erzählt, der seine Bomben lieber ins Meer als auf eine Schule abwarf, und Italien beschränkt sich diesmal nach der letzten Orgie auf weniges im Sinne der Arte Povera,  Und überall, in der Stadt, im Arsenale, in den Giardini, überall ist unübersehbar China präsent,  VR wie Taiwan, auch in gemeinsamen Aktionen. Freudig oder empört oder gelangweilt bedient sich das Biennale Publikum an den Vorbesichtigungs- und Eröffnungstagen aus diesem Füllhorn der Kunst und des Kunsthandwerks, macht Ausflüge ins Rituelle und Unterbewußte, Wissenschaft? Fehlanzeige, dafür werden viele Bild-Geschichten erzählt, die Film- und Videoflut ebbt ab. 


Filetstücke sind natürlich nach wie vor die nationalen Pavillons in den Giardini, vor allem wegen ihrer großen Architekturen und auch der angenehmen  Flaniermöglichkeiten – wenn nicht die Schlange wären, die viel Zeit kosten.
Was solls – auch Zeit ist ein Begriff, der in den Palazzo Encyclopedico gehört.


Die immer angriffslustigeren allgemeinen Überlegungen, ob das Nationale in der Kunst noch zeitgemäß sei, stellen Deutschland und Frankreich auf den Prüfstand: die Kuratorinnen Susanne Gaensheimer für Deutschland und ihre französische Kollegin Christine Macel haben die Pavillons getauscht. Der offizielle Grund: die 50. Wiederkehr des französisch-deutschen Freundschaftsvertrags. Aber nicht nur die Pavillons sind getauscht, au bieten beide Nationen Künstlern aus anderen Ländern eine Plattform: für Frankreich ist der gebürtige Albanier Anri Sala mit einer doppelbödigen Hommage an Maurice Ravel und den einarmigen Pianisten Wittgenstein vertreten mit Pavillon füllender Musik und dem Versuch, zwei unterschiedliche Aufnahmen des „Konzert für die linke Hand“ zu synchronisieren; im kreuzförmigen französischen Pavillon zeigen für Deutschland 4 Künstler ihre Werke: Chinese Ai Weiwei mit einer Installation aus traditionellen Dreibein-Schemeln in der Vierung,  (viel interessanter ist seine Installation auf der Guidecca), in den Seitenkabinetten Videos von Romuald Karmakar, in Deutschland aufgewachsener franco-Iraner mit französischem Paß, der Inderin Dayanita Singh und Fotostrecken des Südafrikaners Santu Mofokeng. Den nationalen Pavillons tut diese Mischung keinen Abbruch – ein mutiger Versuch, der auch deutlich macht, wie weit Globalisierung Kunst austauschbar macht und sich überall vernetzt. 


Das Spezifische findet sich vielleicht noch bei Jeremy Deller im Britischen Pavillon, der ganz auf Archäologie der Steinzeit in England und Mitmachevents setzt. Dänemark gibt ein halb zerstörtes Ensemble nach dem Bombenangriff, Finnland setzt auf Sichtbarmachung von CO2-Ausstoß, clever gemacht, USA verspinnt sich diesmal ganz, außen wie innen, Israel erzählt abstruse Tunnel-Geschichten, mit großem Aufbruch mitten im Pavillon, Griechenland will das Muschelgeld wieder einführen und Rußland die Danae-Währung, Japan erhält für seine Darstellung der Sozialarbeiter-Begleitung von Katastrophen-Opfern eine spezielle Belobigung, Venedig setzt wie ursprünglich auf Seide und Glas, die einst die Grundlage für ihren Reichtum waren, Rumänien stellt pantomimisch geglückt große Kunstwerke der Weltgeschichte in lebenden Bildern nach, Polen läßt Glocken klingen und Österreich bietet Trickfilmclip in Walt-Disney-Manier mit penetrantem Soundtrack, der nicht mehr aus dem Ohr geht, bis man völlig aufgelöst in den niederländischen Pavillon zu Mark Manders großen Kopf-Skulpturen kommt, die martialisch zwischen große Platten  eingeklemmt sind. 


Und während man noch stundenlang auf Einlaß in den koreanischen Pavillon  wartet und sich schon in die gläserne, präparierte Außenfassade ringsherum hinein meditiert, die in allen Spektralfarben glitzernd das aufgelöste Sonnenlicht reflektiert, kommt die auch didaktisch und methodisch wertvolle Erleuchtung: Das vielfarbig Schillernde ist es, was in der Retrospektive den Palazzo Encyclopedico im Prisma ausmacht. Was kommt steht noch nicht drin, das heute ist ja gestern schon Geschichte und zerplatzt vielleicht wie eine solmisierte Seifenblase. Der hoch interessante, viel geliebte  Blick zurück erfolgt aus der schwankenden Gondel von Gegenwart und Zukunft – noch keine Lösungen, und in diesem Sinne: Gut gebrüllt, venezianischer Löwe.


Tipp:
Unbedingt hinfahren, auch mit Schülern!
In den ersten Tagen nach der Eröffnung waren viele italienische Sek I+II-Schulklassen ziemlich interessiert unterwegs.
Dauer noch bis 24. November 2013
www. labiennale.org


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