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Bericht vom 30.07.2013

68. Sommerliche Musiktage Hitzacker 2013 « TRÄUME »

Traumhaftes Eröffnungswochenende 27.+28. Juli

© Jutta de Vries

 
 


68. Sommerliche Musiktage Hitzacker 2013 « TRÄUME »


Sommerzeit, Festspielzeit –  im inflationären Gewusel gibt es seit 68 Jahren eine Konstante : Deutschlands ältestes Kammermusikfestival in Hitzacker. Tradition und Innovation sind hier aufs Schönste verbunden. Alte Musik, Ausgrabungen verschollener Werke, Klassik und neue Musik bis hin zum Experimentellen und zu Uraufführungen begegnen sich und werden mit Literatur und Tanz gesteigert. Die geschickte Interpretenauswahl mit einerseits jungen, schon preisgekrönten   Talenten und andererseits hochkarätigen Weltstars kommt gut an und verursacht jedes Jahr in der ersten Augustwoche einen Pilgerstrom auf den Gradus ad Parnassum.


Die Beschränkung auf einen einzigen Veranstaltungsort, nämlich die hinreißende historische Flußinsel Hitzacker inmitten lieblicher Elbtalauen gibt der 8-tägigen Veranstaltungsreihe eine hohe Konzentration : man bleibt am liebsten die ganze Zeit dort, weil es einen Themenbogen gibt und man nichts verpassen will, man kennt sich, weil man jedes Jahr wieder kommt, man tauscht sich über das Gehörte aus, kommt mit den Künstlern ins Gespräch, die soziale Kommunikation hat einen Mega-Stellenwert. Zwischen die Konzertblöcke sind Vermittlungs- Mitmach- und Erholungsangebote wie die Hörerakademie, das Chorsingen für alle oder der Festival-Walk eingeschoben. Kurz gesagt, dieses Festival ist im Sinne des amerikanischen Begriffs « Musicking » komplexe, bunte Vielfalt in der Einheit,
Und kann dieses Jahr erleichtert genossen werden, da die Juniflut die Stadt diesmal verschonte – klug vorsorgend hatte man nach dem verheerenden Flutjahr 2002 eine Flutmauer gebaut.


Die Elbtalaue und ihre Bewohner sind lange aufgrund der sensiblen Lage der Natur ökologisch am Ball, und in diesem Jahr hat der Trägerverein der  Sommerlichen Musiktage Hitzacker eine Partnerschaft mit der Biospärenreservatsverwaltung besiegelt, um sich in die « Modellregion nachhaltiger Entwicklung » einzubringen. Im « 1. Forum zur Nachhaltigkeit der Kultur » , das am 29.Juli mit Vertretern aus der Wissenschaft stattfand, wurde  die Wirkung von Nachhaltigkeit in Okologie, Ökonomie, Soziologie auf den Kulturbereich bezogen und ausgedehnt – nach dem Motto : »Don’t be afraid of complexity ». Ein Thema, dass es noch auszuweiten gilt. Jedoch sind die Sommerlichen Musiktage Hitzacker mit ihren 68 Festspieljahren in Folge per se ein extrem deutliches Beispiel für Nachhaltigkeit.


Die junge Weltklasse-Geigerin Carolin Widmann ist nun im zweiten Jahr künstlerische Leiterin des Festivals und voller Begeisterung bei der Sache. « Hier kann ich Gestalten, Neues wagen, was  mir als Interpretin nur in begrenztem Umfang möglich ist » sagt sie, und komponiert voller Lust beziehungsreiche, verweisende, kontrastierende und surreale Programme. Nach dem sehr komplexen Thema « Exil » in ihrem Debütjahr hat sie diesmal das weite Feld der « Träume » als Leitbegriff für die Sommerlichen gewählt. Auf die Frage nach einem Geheimtipp für das komplexe Programm gibt Carolin Widmann bei der Eröffung am Samstag vor ausverkauftem Haus den spitzbübischen Rat : « Ohren auf, Neugierde zulassen, alles was neu ist, aufsaugen » 


 
 


Traumhaftes Eröffnungswochenende 27.+28. Juli 




Bei traumhaften Sommerwetter wurden die Traumzeiten w a c h gerufen – welch Papradoxon – von Marie-Luise Neuneckers singulärem subtilen Hornklang in Olivier Messiaens « Appel interstellaire ». Das Horn als Inbegriff aller romantischer Wald- und Seelenempfindung stand auch im Mittelpunkt der Horntrios von Charles Koechlin und Johannes Brahms, hier zusammen und grandios interpretiert mit Carolin Widmann, Violine und Konstantin Lifschitz am Klavier, dessen weiteres Solo der « Six Epigraphes Antiques » von Claude Debussy in fast unhörbarem ppp verwehte. Traumhaft für alle, die immer von der Auskostung dynamischer Bandbreite träumen.
 
Nach den Tagträumen gabs am Abend den Blick auf die Nachtträume, Carolin Widmann  hatte für das Zusammenspiel mit der Akademie für alte Musik aus Berlin extra eine Geige mit Darmsaiten bezogen und auf 430hz herunter gestimmt, um ein nie so farbig und dynamisch brillant gehörtes G-Dur-Violinkonzert von Mozart zu bringen, mit eigenen Kadenzen wie ferner träumender Widerhall der Notation. Eine Rarität und Wiederaufführung nach Jahrhunderten : das virtuose, weit in die musikalische Klassik voraus weisende Violinkonzert A-Dur von Franz Benda, weiland Violonist bei Friedrich dem Großen. Die vergessene Handschrift hatten Stefan Mai, Konzertmeister der Akademie für Alte Musik Berlin und Carolin Widmann in der Staatsbibliothek aufgestöbert : ein unerhörtes Erlebnis, ein Tanz auf den Saiten und Bögen ohne gleichen, ein dynamisches Fest  aller Artikulationen – maßlos herrlich, wie Träume nun mal sein können. Und nie konnte man sich  in Boccherinis Musica Notturna di Madrid so traumwandlerisch einfühlen, nie Mozarts  Kleine « Nudel»-Nachtmusik so wunderbar neu erfassen.


Auch der Sonntag, traditionell ein Tag, der alles gibt und alles fordert, war ein Tag der Träume, Träume unterschiedlicher Kategorien : beginnend mit Utopien von Thomas Morus bis Wolfgang Rihm, über Visionen des American Dream von Martin Luther King und der gläsernen Gesellschaft des Jewgenij Zamjatin von 1920, die Orwells 1984 weit vorweg nimmt (Heikko Deutschmann liest kongenial beunruhigend), bis zu den bleichen Fantasien des Mondes, die am späten Abend mit der Pantomime !silence! der phänomenalen Compagnie Bodecker&Neander mit ihrem an Marcel Marceau geschulten visuellen Theater das Eröffnungswochenende beschloß.


Der komplexe Tag mit vielen Analogien, Verweisen und Kontrasten quer durch die Kammermusiklandschaft gab viele Denkanstöße und Momente glückhaften Hörens. Zum Beispiel die selten gehörte Fantasie « Empfindungen » von C.Ph.E. Bach (sensationell : Maki Wiederkehr vom Trio Rafale) im Vergleich zu Toru Takemitsus « Rain Dreaming » für Cembalo von 1985, gespielt von Wiebke Weidanz. Oder Rachmaninows Klaviertrio op 9 Nr.1 mit dem profilierten Rafale-Trio. Oder Arnold Schönbergs Melodram  "Pierrot Lunaire", ein Leitwerk der psychologischen Traum-Theamatik :  Diseuse Salome Kammer : à point !


Viel erlebt und gehört, neu gehört an diesem Wochenende : Zuviel ? Überviel ? 


Kritische Stimmen bringt möglicherweise  das Zitat des Soziologen und Musikwissenschaftlers Prof.Dr. Volker Kirchberg von der Leuphana Universität Lüneburg zum Nachdenken :« Wer viel erlebt, dem wird mehr einfallen ! »
 
Viel erleben kann man noch in den nächsten Tagen bis zum Sonntag, 4.8., der mit einer fetzigen Jazz-Session endet. 
Dazwischen sind illustre Gäste zu erleben: das Auryn-Quartett, Anrás Schiff und Hanno Müller-Brachmann mit einem Liederabend, der Klarinettist Jörg Widmann, amarcord oder das diesjährige Ensemble en residence, "Kaleidoskop".
 
Weitere Infos unter www.musiktage-hitzacker.de 
 
 


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